Die Europawahl 2024 wird von einem düsteren Schatten überschattet: Zwei Jahre nach Russlands Angriff auf die Ukraine sind die Folgen dieses Krieges – Inflation, Sicherheit und Flüchtlingsströme – nach wie vor die dominierenden Themen. Die tief verwurzelte Furcht vor steigender Kriminalität hat den Klimawandel als größte Sorge abgelöst. Diese Angstwelle, gepaart mit wachsender Islamophobie und Rassismus, zeigt, wie stark Europa von Unsicherheiten geprägt ist. Diese Ängste spiegeln sich auch deutlich in der Europawahl wider.
Ich habe mir die Exit Polls angeschaut und versuche mich hier an einer Interpretation der Ergebnisse.
Putin – Der Nutznießer der Unruhe
Es lässt sich kaum bestreiten, dass Wladimir Putin als großer Gewinner dieser Wahl hervorgeht. Sein Angriffskrieg hat nicht nur geopolitische Spannungen verschärft, sondern auch innereuropäische Destabilisierung vorangetrieben. Desinformationskampagnen, finanzielle Unterstützung für rechtspopulistische Parteien wie AfD und BSW sowie gezielte Hackerangriffe haben Europa tief gespalten. Die wachsende Unterstützung für extreme Rechte ist ein Beweis für Putins Erfolg, die europäische Einheit zu untergraben. Besonders besorgniserregend ist, dass 76% der AfD-Wähler und 75% der BSW-Wähler Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen – ein klares Indiz für die prorussische Haltung dieser Gruppierungen.
CDU – Die Partei der Rentner
Trotz der Unbeliebtheit der Ampelkoalition konnte die CDU nicht profitieren. Sie bleibt eine Partei, die vor allem ältere Wähler anspricht, die ihren Wohlstand sichern wollen. Friedrich Merz, dessen Beliebtheit nur bei 38 % liegt, schürt soziale Neiddebatten und fördert einen rechtspopulistischen Kurs, der die AfD weiter stärkt. Der Kuschelkurs mit Meloni, um Ursula von der Leyen im Amt zu halten, lässt erkennen, dass die CDU strategisch auf kurzfristige Vorteile setzt, ohne eine langfristige Vision für Europa zu bieten. Für die Bundestagswahl ist fraglich, ob die Brandmauer überhaupt noch existiert. Doch auch die fehlenden Inhalte hinterlassen ihre Spuren. Nur noch 36 % empfinden, dass die Union wirtschaftliche Kompetenzen hat. In Anbetracht, dass die Union sich so an der Schuldenbremse festklammert, ist das noch ein sehr guter Wert.
Die CDU konnte Stimmen von SPD, FDP und Grünen holen, verlor aber auch viele an Nichtwähler und an, wenig überraschend, die AfD.
AfD – Die Partei der Ängste
Die AfD versteht es meisterhaft, die Ängste der Menschen zu nutzen. Auch außerhalb des Wahlkampfes feuert die AfD diese Ängste immer wieder an und schafft sich so nicht nur ihre eigene Wählerschaft, sondern sorgt auch mit dem Decoupling von seriösen Nachrichten dafür, dass ihre Wählerschaft treu bleibt. Ihre Rhetorik richtet sich vor allem an diejenigen, die sich vor sozialem Abstieg fürchten. Wenig überraschend ist die AfD stark bei Menschen mit einfacherer Bildung, aber auch bei mittleren Bildungsabschlüssen konnte sie vermutlich mit der Angst vor dem Abstieg punkten. Menschen mit hoher Bildung hat die AfD durch ihre Skandale deutlich verloren. Konträr zu ihrem Parteiprogramm ist die AfD nun die Partei der Arbeiter. 33% der Arbeiter wählten die AfD und machten sie somit zur stärksten Kraft vor der CDU mit 24%. Die ehemalige Arbeiterpartei, SPD, konnte nur 12% der Menschen mobilisieren. Ebenso konnte die AfD bei Menschen mit geringem Lebensstandard massiv zulegen und wurde auch hier die stärkste Kraft mit 32%. Während 71% der Gesamtwähler die AfD für eine rechtsextreme Partei halten, ist es für 72% der AfD-Wähler egal, dass diese rechtsextrem ist. Das lässt darauf schließen, dass mindestens 72% der Wähler selbst ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben.
Die AfD hat kaum Stimmen an die BSW verloren. Der größte Teil der nicht mehr AfD-Wähler wurde zu Nichtwählern. Neue Wähler konnte die AfD vor allem von CDU, SPD und FDP gewinnen.
SPD – Eine Partei ohne Profil
Tja, wer wählt denn eigentlich noch die SPD? Um ehrlich zu sein, ist es ein sehr gutes Ergebnis für die SPD. Es fehlt am Markenkern, an Ideen und an fähigen Politikern. Im Vergleich zur letzten Wahl hat man nur 1,9% verloren. Und bei der Bundestagswahl wurde die SPD nur die größte Kraft, weil Laschet und Baerbock Fehler gemacht haben. Wie die CDU speist sich die SPD somit aus der Substanz: den Rentnern und den Unpolitischen. Nur 23% der Menschen empfinden Olaf Scholz als guten Bundeskanzler, während sich 85% eine klare Führung wünschen würden. Über zwei Drittel der Menschen empfinden, dass die SPD viel versprochen, aber wenig geliefert hat. Die größte Kompetenz, die man der SPD zuschreibt, ist soziale Gerechtigkeit (27%). Somit ist auch die SPD einer der großen Unterstützer der AfD.
Der SPD ist es nicht gelungen, Stimmen von anderen Parteien zu holen, sie verliert aber den größten Teil an die Nichtwähler. Ebenso verlor sie viele Wähler an die Union, BSW und AfD.
Grüne – Die Partei ohne Glaubwürdigkeit
Die Grünen verlieren deutlich im Vergleich zur letzten EU-Wahl, bleiben aber, auch wenn sie damit nicht zufrieden sein können, historisch auf einem guten Niveau. Vor allem verloren die Grünen bei Wählern unter 30 Jahren. Ganze 18 Prozentpunkte hat man hier verloren. Dieser Trend lässt sich auch gut beim Klimaprotest sehen. Während Fridays For Future bei der letzten EU-Wahl ihren Höhepunkt hatte und sich jede Partei dazu gezwungen sah, sich zu dem Thema zu positionieren, sind die Klimaproteste inzwischen fast verebbt. Auch die Bundespolitik wird von den Wählenden nicht positiv aufgenommen. Nur noch ein Drittel der Menschen findet, dass die Partei Kompetenzen beim Thema Klima- und Umweltschutz hat und sich dafür konsequent einsetzt. Das Aufweichen der Sektorzielen, das misslungene Heizungsgesetz und das fehlende Durchsetzungsvermögen gegen die FDP kosten die Grünen, zu Recht, viele Stimmen.
Die Grünen werden unabhängig von Geschlecht und Alter nahezu homogen gewählt. Die größte Auffälligkeit ist das Gefälle im Bildungsniveau. Während die Grünen bei Menschen mit hoher Bildung 18 % holen, sind es bei mittlerer Bildung 6 % und bei niedriger Bildung nur 4 %. Die Gründe hierfür sehe ich vor allem in der sachlichen Kommunikation im Vergleich zum Populismus und der verfehlten Sozialpolitik, insbesondere was Klimaschutzthemen angeht. Somit verfehlen die Grünen auch weiterhin das Ziel, eine Volkspartei zu werden. Die Grünen konnten kaum neue Wähler gewinnen, haben aber viele an die Union und an Nichtwähler verloren.
BSW – Putins Backup-Plan
Mit der BSW hat Putin einen zweiten großen Unterstützer gefunden. Die Partei speist sich aus dem Personenkult um Sahra Wagenknecht und dem Fehlen eines wirklichen Programms. Was man bislang weiß, ist eine obskure Mischung aus rechtspopulistischen Forderungen mit einem Hauch von Sowjetnostalgie. Viele Experten haben geglaubt, dass die BSW der AfD Stimmen nehmen könnte, wenn man Ressentiments mit einer Prise Sozialismus mischt. Doch die Zahlen zeigen etwas anderes. In der Politik der BSW sahen vor allem die Wähler der SPD und der Linken eine Alternative.
FDP – Die Lobby gegen Klimaschutz
Die FDP hat ihren letzten Joker gespielt und damit die symbolischen 5 % erreicht. Mit MAStrackZi schickte sie die einzige verbleibende, halbwegs beliebte und unverbrannte Politikerin nach Europa. Das sehe ich als großen strategischen Fehler an, der dafür sorgen könnte, dass die FDP bei der nächsten Bundestagswahl die 5 %-Hürde nicht erreicht. Die FDP kehrt damit nach einer katastrophalen Bilanz in der Ampel zu ihren normalen Umfrageergebnissen zurück. Statt Digitalisierung und Bürokratieabbau wurden Klimaschutz und Sozialstaat abgebaut.
Auch die FDP konnte kaum neue Wähler gewinnen, hat aber viele an die Union, die Nichtwähler und die AfD verloren.
Linke – Die Partei ohne Wähler
Die Linke wird vor allem von Idealisten gewählt. Durch die Aufspaltung in die konservative BSW und die Linke hat sie viele bekannte Politiker und Wählerpotenzial verloren. Heidi Reichinnek und Martin Schirdewan konnten vor allem durch ihre Präsenz in sozialen Medien bei jungen Wählern punkten. In der Altersgruppe 16-24 waren es ganze 6 %. Die Linke hat vor allem Wähler an die BSW verloren. Gewinnen konnte sie eine Handvoll Grünen-Wähler.
Auswirkungen auf Europa
Trotz der schwachen Ergebnisse in Deutschland bleiben die Fraktionen der Linken und Sozialdemokraten im Europaparlament stabil. Die Grünen verlieren jedoch voraussichtlich 19 Sitze (von 71 auf 52), während Renew, zu denen auch die FDP gehört, 23 Sitze einbüßen (von 102 auf 79). Die konservative EVP/EPP gewinnt voraussichtlich 8 Sitze hinzu und bleibt weiterhin die stärkste Kraft (von 176 auf 184). Die rechtsextreme ECR-Fraktion, bestehend aus Melonis Partei und der PiS, gewinnt 4 Sitze hinzu (von 69 auf 73). Die rechtsextreme ID konnte trotz des Ausschlusses der AfD 9 Sitze hinzugewinnen (von 49 auf 58). Nach dem Ausschluss von Krah dürfte es jedoch nur eine Frage der Zeit sein, bis die ID die AfD wieder aufnimmt. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Wählerwanderung nach rechts.
Trotzdem hält derzeit die informelle Koalition der Mitte. Sozialdemokraten und Grüne haben bereits angekündigt, dass sie eine Kommissionspräsidentschaft nur unterstützen werden, wenn der Annäherungskurs der EVP zu Meloni unterlassen wird. Glücklicherweise sind sich auch die zwei rechtsextremen Fraktionen uneins: Während sich ID und AfD an Russland binden wollen, lehnt die ECR diesen Kurs ab.
Auswirkungen auf marginalisierten Gruppen
Diese Wahl ist ein Schock für viele marginalisierte Gruppen wie People of Color (POCs), LGBTQ+ und andere Minderheiten. Mit dem erstarkenden Einfluss rechtsextremer Parteien wie der AfD steigt nicht nur die Angst vor zunehmender Diskriminierung und Gewalt, sondern auch die Ungewissheit darüber, wie es weitergehen wird. Der Rechtsruck wird für diese Gruppen zu einer realen Bedrohung. Er nimmt die Planungssicherheit und die Zuversicht für die eigene Zukunft. Für viele POCs bedeutet dies eine verstärkte Bedrohung durch Rassismus und ethnische Gewalt, während LGBTQ+-Personen befürchten, dass ihre hart erkämpften Rechte und Freiheiten weiter eingeschränkt werden könnten.
Auswirkungen auf den Klimaschutz
Die Europawahl 2024 hat auch erhebliche Auswirkungen auf den Klimaschutz, insbesondere angesichts der Erfolge rechtspopulistischer Parteien, die den Klimawandel leugnen. Aber auch die CDU arbeitet mit Hochdruck daran, die kleinen Erfolge zurückzudrehen. Der Green New Deal, ein zentrales Element der EU-Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels, steht nun auf dem Prüfstand. Bereits jetzt gibt es Bestrebungen, diesen Deal zurückzudrehen und zu entschärfen. Dies könnte zu einer Abschwächung der ambitionierten Klimaziele führen und die Umsetzung notwendiger Maßnahmen verzögern.
Ein weiteres alarmierendes Signal ist die Diskussion über das mögliche Aus für das geplante Zulassungsverbot von Verbrennungsmotoren. Die Abschaffung dieser Regelung würde die Bemühungen um eine CO2-neutrale Zukunft erheblich behindern. Die Wahlergebnisse und die Exit Polls zeigen, dass der politische Wille, konsequente Klimapolitik zu betreiben, schwindet. Die Alternative zum ‘Change By Design’ ist immer der ‘Change By Disaster’. Die Festung Europa wird sich wappnen gegen die Klimaflüchtlinge, aber egal, wie hoch man die Mauern ziehen wird, die Folgen werden auch wir hier alle spüren.
Auswirkungen auf die Zukunft
Die Ergebnisse der Europawahl 2024 werden voraussichtlich auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Bundestagswahl haben. Rechte Themen, angeheizt durch Ängste und Unsicherheiten, werden weiterhin die politische Agenda dominieren. Politiker aller Couleur und Medien scheinen nicht bereit oder in der Lage zu sein, die Dynamik grundlegend zu verändern. Stattdessen wird wahrscheinlich der Versuch fortgesetzt, die AfD zu entzaubern – eine Strategie, die in der Vergangenheit immer nach hinten losging. Durch diese Versuche erhält die AfD paradoxerweise noch mehr Reichweite und Aufmerksamkeit. Ihre Positionen werden in öffentlichen Debatten zunehmend relativiert und normalisiert.
Dieser Mythos, dass man die AfD entzaubern könnte, beruht auf dem Irrglauben, dass AfD-Wähler rationale und moralische Entscheidungen treffen. Dabei ist den AfD-Wählern wirklich alles egal, solange die Parole 'Ausländer raus' lautet.
Statt über oder mit der AfD zu reden, sollten sich die Parteien daher darauf konzentrieren, ihre eigene Identitätskrise zu überwinden, an der Kommunikation zu arbeiten, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen und das zu tun, wofür sie gewählt wurden: Politik machen.