In unserer modernen Gesellschaft hat die Arbeit in den letzten Jahrzehnten einen Status erlangt, der fast religiöse Züge angenommen hat. Diese Entwicklung ist das Resultat eines fundamentalen Wandels unseres Denkens, der uns von der traditionellen Religion weg und hin zur Arbeit als zentralem Lebensinhalt geführt hat. Für viele ist die Arbeit nicht mehr nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein Lebensziel, eine Quelle der Identität und des Selbstwertgefühls. So schrieb der deutsche Philosoph Walter Benjamin bereits 1921: „Der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben“.
Unsere Beziehung zur Arbeit ist heute verzerrt und ungesund. Arbeitslosigkeit wird oft nicht als soziales oder wirtschaftliches Problem betrachtet, das gelöst werden muss, sondern als Versagen des Individuums. Arbeitslose Menschen werden entmenschlicht und stigmatisiert. Studien zeigen, dass Arbeitslose häufig als weniger wertvoll oder faul wahrgenommen werden, was zu sozialer Isolation und psychischen Problemen führen kann. Konservative und rechte Parteien verstärken diese Haltung, indem sie vorschlagen, Sozialleistungen zu kürzen und den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen, anstatt strukturelle Probleme des Arbeitsmarktes anzugehen.
Wie jede Religion hat auch der Kapitalismus seine Dogmen und Glaubenssätze. Die Schuldenbremse, ein fiskalpolitisches Instrument, das seit 2009 in Deutschland gilt, soll hohe Verschuldung verhindern, ist jedoch besonders in Krisenzeiten umstritten, da sie staatliche Investitionen stark begrenzen kann. Ein weiteres Dogma ist die Überzeugung, dass Sozialleistungen gekürzt werden müssen. Diese Maßnahmen werden oft als alternativlos dargestellt, obwohl sie in Wirklichkeit häufig die soziale Ungleichheit verschärfen und die Schwächsten in unserer Gesellschaft noch weiter marginalisieren.
Deutschland hat eine der höchsten Steuerlasten für die Mittelschicht, während Reiche und Superreiche verhältnismäßig wenig beitragen. Auch große Unternehmen nutzen zahlreiche Steuerschlupflöcher, was dazu führt, dass die größten finanziellen Belastungen auf den Mittelstand fallen. Diese Schieflage wird von einem politischen System begünstigt, das Steuerschlupflöcher lange bestehen lässt und sich von Lobbyinteressen beeinflussen lässt, unabhängig von der politischen Ausrichtung der Parteien. Statt eine faire Besteuerung anzustreben, lenken insbesondere rechte Parteien die Diskussion in eine Neiddebatte. Sie schieben die Schuld für die hohe Steuerlast auf die hohen Sozialleistungen, anstatt strukturelle Veränderungen im Steuersystem anzugehen. Diese Narrative verfehlen jedoch den Kern des Problems und tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei, anstatt Lösungen für eine gerechtere Verteilung der Steuerlast zu finden.
Ebenso ist die neoliberale Ideologie, die vor allem durch die FDP und AfD vertreten wird, ein weiteres Dogma. Die Vorstellung von der “unsichtbaren Hand” des Marktes, die alle Probleme löst, ist in unserem staatskapitalistischen System eine Illusion. In Wirklichkeit greift der Staat regelmäßig ein, um Märkte zu regulieren, Unternehmen zu subventionieren und soziale Ungleichheiten abzumildern. Ohne diese Eingriffe würde die Marktwirtschaft nicht funktionieren und im Chaos enden.
Der Vergleich von Arbeit mit Religion ist mehr als nur eine Metapher. Historisch gesehen bot die Religion den Menschen einen Sinn, eine Gemeinschaft und moralische Orientierung. Heute scheint die Arbeit diese Rolle übernommen zu haben. Sie strukturiert unseren Alltag, definiert unseren sozialen Status und bietet uns eine Identität. Doch im Gegensatz zu religiösen Gemeinschaften, die oft auf Mitgefühl und Unterstützung basieren, fördert die moderne Arbeitswelt Konkurrenz und Individualismus. Wir sollten uns fragen, warum wir Arbeit so hoch schätzen und welchen Preis wir dafür zahlen. Arbeit sollte nicht unser einziger Lebensinhalt sein. Sie sollte nicht unsere gesamte Identität bestimmen oder der Maßstab sein, an dem wir den Wert eines Menschen messen.
Eine gesunde Gesellschaft muss den Wert von Freizeit, Gemeinschaft und sozialer Sicherheit erkennen und verteidigen. Sie versteht, dass Menschen mehr sind als nur ihre Arbeitskraft.