Die große Sehnsucht nach Gestern
Warum Merz Kanzler wird und Raab wieder Shows macht – Die Rückkehr der Ewiggestrigen in einer Welt, die nach echten Antworten schreit.
In Zeiten wachsender Unsicherheiten – von der Klimakrise über geopolitische Konflikte bis hin zu wachsender sozialer Ungleichheit – sucht die Gesellschaft nicht nach Lösungen, sondern nach der Vergangenheit, einer Zeit, die ihr rückblickend sicher und unkompliziert erscheint.
Doch was als harmloser Nostalgietrip beginnt, entwickelt sich zur Flucht vor der Realität. Plötzlich wird Friedrich Merz als Retter inszeniert, als wäre seine reaktionäre und männlich dominierte Politik jemals eine Lösung gewesen. Ebenso kehren Unterhalter wie Stefan Raab zurück, als hätte das Land nur darauf gewartet, die Witze und Denkmuster der 2000er erneut zu feiern. Doch diese Rückkehr ins Gestern ist nicht nur unangebracht – sie ist gefährlich.
Statt sich der Realität zu stellen, klammern sich nicht nur Boomer, sondern inzwischen auch Millennials, die sich nach der „einfacheren“ Zeit ihrer Jugend sehnen, an die Illusion von Klarheit und einfachen Antworten. Aber das Gestern hat nichts Neues zu bieten – es ist bloß ein bequemes Versteck vor den Herausforderungen, die unsere Zukunft bestimmen werden.
Friedrich Merz: Der Kanzler der Ewiggestrigen
Friedrich Merz ist ein Relikt der 90er-Jahre – und das ist nicht als Kompliment gemeint. Die Tatsache, dass er heute als Kanzlerkandidat ernsthaft im Raum steht, zeigt die tief sitzende Sehnsucht nach klaren Feindbildern und konservativen Antworten in einer Welt, die zunehmend komplex und undurchsichtig wirkt. Dass er in der CDU an die Spitze geklettert ist, verdankt er nicht seinen Fähigkeiten oder sinnvollen Lösungsansätzen, sondern lediglich dem tiefen Bedürfnis einer überalterten Partei, sich gegen jede Form des gesellschaftlichen Wandels zu wehren.
Merz, der in seinen Grundwerten schon in den 2000ern als aus der Zeit gefallen galt, steht heute als Symbol für eine politische Rückwärtsrolle. Seine rückgratlose Abgrenzung zur Ära Merkel, die trotz aller Kritik für eine moderne und weltoffene CDU stand, zeigt nur, wie wenig ihn tatsächlicher Fortschritt interessiert. Seine Rechtspopulismen, vom Kampf gegen den Klimaschutz bis hin zu seinen regelmäßigen verbalen Ausfällen gegenüber Minderheiten, entlarven ihn als das, was er ist: ein Chauvinist, der lieber Grenzen zieht, als Brücken baut.
Dass sich in dieser politisch aufgeladenen Atmosphäre auch ein Söder freiwillig zurückzieht, um Merz den Vortritt zu lassen, spricht Bände über den Zustand der Union. Die Partei wirkt wie aus einem schlechten Zeitreise-Film: konservativ, blockiert und unfähig, sich der Moderne zu stellen. Die jungen Wähler*innen haben das längst erkannt. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen liegt die Zustimmung für Merz bei gerade einmal neun Prozent.
Stefan Raab: Die Rückkehr des Retro-Patriarchats
Aber es sind nicht nur die politischen Gesichter von gestern, die wieder auf der Bildfläche erscheinen. Auch in der Unterhaltungswelt feiert die Sehnsucht nach der Vergangenheit ein peinliches Comeback. Stefan Raab, einst König der TV-Landschaft, kehrt aus seinem wohlverdienten medialen Grab zurück, um – naja – die gleiche alte, abgestandene Unterhaltung wie vor 20 Jahren abzuliefern.
Dass ausgerechnet Thomas Gottschalk einen Einspieler in Raabs Comebackshow hatte, ist fast schon zu perfekt. Zwei Dinosaurier der alten, weißen Männer-Unterhaltung, die ihre Plattform nutzten, um in einer Zeit, in der „politische Unkorrektheit“ noch als witzig und nicht als problematisch galt, auf die Schwachen der Gesellschaft einzuprügeln. Mit Raab wird nicht nur der plumpe Humor der 2000er wiederbelebt, sondern auch eine Ära, in der es völlig okay war, sich über Minderheiten lustig zu machen und sozialen Status und Herkunft zur Zielscheibe zu machen.
Und die Millennials, die heute die neuen „Fortysomethings“ sind, jubeln. Nicht, weil sie tatsächlich glauben, dass die Welt damals besser war, sondern weil es sich einfach anfühlt. Es war die Zeit ihrer Jugend, einer Zeit ohne all die Überforderung durch die Klimakatastrophe, durch geopolitische Spannungen und soziale Ungerechtigkeit. Natürlich hatte auch diese Epoche, die so romantisiert wird, ihre Herausforderungen und Krisen, doch durch die nostalgische Brille erscheinen diese klein und unbedeutend.
Flucht vor der Realität
Dieser Wunsch nach einer einfacheren Welt ist keine rationale Reaktion auf die Probleme unserer Zeit. Er ist eine Flucht – eine Flucht in eine emotional aufgeladene Vergangenheit, die so nie existiert hat. Niemand möchte tatsächlich auf den technologischen und medizinischen Fortschritt verzichten, der uns heute so viel ermöglicht. Aber einige sehnen sich nach den 90ern zurück, einer Zeit, in der die Gleichstellung und Akzeptanz von LGBTQ-Personen, Frauen und PoCs längst nicht den Fortschritt erreicht hatte, den wir heute sehen. Solange man selbst nicht direkt betroffen ist, fällt es nur allzu leicht, einen Rückschritt zu fordern – und anderen Rechte und Freiheiten zu entziehen. Aber was gewinnen diese Menschen eigentlich dadurch?
Diese Sehnsucht, die sich politisch bei Merz und kulturell bei Raab symbolisch manifestiert, ist kein Ausdruck von Fortschritt, sondern von Resignation. Anstatt die Herausforderungen der Gegenwart anzunehmen, ergreifen viele die einfachste Möglichkeit: Sie klammern sich an die Vergangenheit, ignorieren die drängenden Probleme und hoffen, dass das, was damals „funktionierte“, auch heute noch die Antwort sein könnte.
Die Klimakrise jedoch lässt sich nicht mit einem nostalgischen Rückgriff auf die fossilen Zeiten der 90er lösen. Merz mag davon träumen, den Fortschritt abzuwickeln und die Welt wieder in einfache kapitalistische Lager zu teilen, doch die Realität gibt ihm da keine Wahl. Die Klimakatastrophe wartet weder auf die Ewiggestrigen der CDU noch auf die der AfD – und schon gar nicht lässt sie sich durch konservatives oder rechtspopulistisches Gerede aufhalten.
Genauso wenig werden soziale Ungleichheit und Abstiegsängste dadurch gelindert, dass man Menschen ausgrenzt, abschiebt oder ihre Rechte beschneidet. Die Antworten, die Merz und Co. liefern, sind emotional getrieben, nicht rational. Die wahren Antworten liegen in Inklusion, in Klimaschutz, in sozialer Gerechtigkeit und in einem Blick nach vorne, der die tatsächlichen Probleme unserer Zeit anerkennt und innovative Lösungen entwickelt.
Die Sehnsucht nach gestern ist das unvermeidliche Symptom einer überalterten Gesellschaft. Doch die Zukunft gehört nicht denen, die zurückweichen, sondern denen, die den Mut haben, unsere Welt radikal zu erneuern.