Die Kunst des Perspektivwechsels
Warum deine Perspektive sowohl falsch als auch richtig – und trotzdem wichtig ist
Stell dir vor, du befindest dich inmitten einer Beziehungskrise. Jeder Streit, jedes Missverständnis scheint nur noch mehr Spannungen zu erzeugen. Manchmal verliert man im Dickicht der eigenen Gefühle und Überzeugungen den Überblick und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Ein Perspektivwechsel kann hier Wunder wirken. Wenn wir versuchen, die Situation aus der Sicht unseres Partners zu betrachten, eröffnen sich neue Einsichten und Lösungsansätze. Ein solcher Wechsel des Blickwinkels ist nicht nur in persönlichen Beziehungen von unschätzbarem Wert, sondern auch in der politischen Diskussion und vielen anderen Lebensbereichen. Über die Notwendigkeit, die Perspektive zu wechseln, und wie dies in der Praxis gelingen kann, möchte ich heute schreiben.
Über die Notwendigkeit
In der Philosophie gibt es unzählige Beispiele, die die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels verdeutlichen. Eine der ältesten Überlieferungen der Nützlichkeit eines Perspektivwechsels bietet Platon mit seinem „Höhlengleichnis“ aus seinem Werk „Der Staat“. In dem Gleichnis geht es um Menschen, die seit ihrer Kindheit so gefesselt sind, dass sie nur auf eine Wand blicken können. Hinter ihnen befindet sich eine Lichtquelle, die Schatten von Gegenständen auf diese Wand projiziert. Die Gefangenen sehen nur die Schatten der Gegenstände an der Wand. Diese Schatten sind für sie die gesamte Realität, weil sie nichts anderes kennen. Im Gleichnis wird ein Gefangener befreit. Er sieht die Lichtquelle und erkennt, dass es mehr gibt als die Realität, die er bisher erlebt hat. Er kommt in die Höhle zurück, um die anderen zu befreien, doch diese struggeln mit ihrer eigenen Wahrnehmung der Realität und können mit dem Gesagten nichts anfangen. Platons Höhlengleichnis beschreibt den Perspektivwechsel – das Verlassen der Höhle und das Erkennen der wahren Natur der Dinge – als notwendig, um tiefere Erkenntnisse zu gewinnen.
Auch spätere Philosophen wie Immanuel Kant und Søren Kierkegaard unterscheiden zwischen der wahrgenommenen Realität und der tatsächlichen Realität. Beide sind der Überzeugung, dass unsere Wahrnehmung durch Erfahrungen, Emotionen, Kategorien und Vorstellungen gefiltert ist und dass wir die Welt nie direkt, sondern nur durch diese subjektive Linse wahrnehmen können. Für Kierkegaard ist die subjektive Wahrheit die wichtigste Wahrheit, weil sie das Leben des Einzelnen authentisch und bedeutungsvoll macht. Ein Perspektivwechsel erfordert demnach das Einfühlen in die subjektiven Erlebnisse anderer, was zu einem tieferen Verständnis und einer größeren Empathie führen kann. Indem wir die Welt aus den Augen anderer sehen, erweitern wir nicht nur unser eigenes Verständnis, sondern bereichern auch unsere eigene subjektive Erfahrung.
Wege zum Perspektivwechsel
Ein Perspektivwechsel beginnt oft mit der Anerkennung, dass unsere eigene Sichtweise begrenzt ist. Philosophische Methoden bieten praktische Ansätze, um diese Begrenzungen zu überwinden. In der Philosophie gibt es viele Ansätze für einen Perspektivwechsel, z. B. die sokratische Methode, Kants kategorischer Imperativ, Hannah Arendts Konzept des „betrachtenden Lebens“, Edmund Husserls Methode der Epoché oder auch Martin Bubers Konzept der Ich-Du-Beziehung.
Sie alle teilen ein gemeinsames Ziel: das Streben danach, unsere Perspektiven zu erweitern und ein tieferes Verständnis der Welt und unserer Interaktionen zu ermöglichen. Jeder dieser Ansätze fordert uns auf, unsere begrenzten Sichtweisen zu hinterfragen, uns der eigenen Voreingenommenheit bewusst zu werden und aktiv daran zu arbeiten, diese zu überwinden. Trotz dieser Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die Methoden und Schwerpunkte der einzelnen Philosophen erheblich.
Die sokratische Methode setzt auf dialogisches Fragen, um Wissen zu hinterfragen und neue Einsichten zu gewinnen. Sokrates' Technik des Fragenstellens zielt darauf ab, verborgene Annahmen aufzudecken und tiefere Wahrheiten zu ergründen. Stell dir vor, ein Partner möchte ins Kino gehen, aber der andere Partner hat keine Lust und möchte lieber daheim bleiben. Anstatt eine andere Aktivität vorzuschlagen, könnte der interessierte Partner fragen: "Warum möchtest du lieber daheim bleiben?" Durch gezieltes Fragen könnte sich herausstellen, dass der andere Partner sich müde oder gestresst fühlt und deshalb lieber zu Hause bleiben möchte.
Kants kategorischer Imperativ hingegen fordert eine universelle Betrachtung der Moral, indem wir unsere Handlungen aus einer allgemeinen Perspektive bewerten. Dabei sollen wir nur nach jenen Maximen handeln, die wir wollen können, dass sie allgemeines Gesetz werden. Dies zwingt uns, über die individuellen Konsequenzen hinauszugehen und moralische Prinzipien zu berücksichtigen. Stell dir vor, ein Partner überlegt, seinen Partner in einem Streit anzulügen, um die Situation zu entschärfen. Bevor er lügt, fragt sich der Partner: "Was wäre, wenn jeder in solchen Situationen lügen würde? Wäre die Welt ein besserer Ort?" Wahrscheinlich nicht, denn wenn Lügen allgemein akzeptiert wären, würde das Vertrauen zwischen Menschen zerstört werden.
Arendts Konzept des „betrachtenden Lebens“ legt großen Wert darauf, ständig über unsere Handlungen und Erfahrungen nachzudenken. Hannah Arendt betont, dass es wichtig ist, darüber nachzudenken, was wir tun und erleben, um unsere Menschlichkeit und ethische Verantwortung zu bewahren. Stell dir vor, ein Paar hat einen Streit darüber, wie sie ihre Kinder erziehen sollen. Der eine Partner ist sehr streng, während der andere Partner lieber eine entspanntere Erziehung möchte. Nach dem Streit nimmt sich jeder Partner Zeit, allein zu sein und über seine Handlungen und Gedanken nachzudenken. Der strenge Partner könnte sich fragen: "Warum bin ich so streng? Ist es wirklich das Beste für unsere Kinder?" Der entspanntere Partner könnte überlegen: "Warum bevorzuge ich eine lockere Erziehung? Welche Auswirkungen hat das auf unsere Kinder?"
Husserls Methode der Epoché konzentriert sich darauf, voreingenommene Urteile auszusetzen, um die Welt in ihrer reinen Form zu erleben. Edmund Husserl forderte, dass wir unsere alltäglichen Annahmen und Vorurteile beiseitelegen, um die wahre Essenz der Dinge direkt zu erfahren. Stell dir vor, ein Paar streitet sich, weil einer von beiden glaubt, dass der andere zu viel Zeit mit Freunden verbringt und ihn oder sie vernachlässigt. Anstatt sofort zu urteilen und wütend zu werden, setzt sich der eine Partner hin und versucht, alle vorgefassten Meinungen und Gefühle beiseite zu legen. Er oder sie denkt darüber nach: "Warum denke ich, dass mein Partner mich vernachlässigt? Könnte es andere Gründe geben, warum er oder sie so viel Zeit mit Freunden verbringt?"
Bubers Ich-Du-Beziehung hebt die Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen hervor und betont das echte Zuhören und Anerkennen der Perspektiven anderer. Martin Buber argumentierte, dass wahre Begegnungen zwischen Menschen nur stattfinden, wenn wir den anderen als gleichwertiges “Du” und nicht als “Es” betrachten, wodurch eine tiefere und authentischere Verbindung entsteht. Stell dir vor, ein Paar streitet sich darüber, dass einer der Partner das Gefühl hat, nicht wirklich gehört oder verstanden zu werden. Anstatt den anderen Partner nur als jemanden zu sehen, der ein Problem verursacht (als “Es”), versucht der eine Partner, den anderen als gleichwertiges “Du” zu sehen. Das bedeutet, wirklich zuzuhören und zu versuchen, die Perspektive und Gefühle des anderen zu verstehen. Zum Beispiel könnte der Partner sagen: "Ich möchte verstehen, warum du dich so fühlst. Kannst du mir mehr darüber erzählen?"
Foucaults Analysen der Machtstrukturen zeigen uns, wie unsere Perspektiven durch gesellschaftliche und historische Kontexte beeinflusst werden und ermutigen uns, diese Strukturen zu hinterfragen und zu verändern. Michel Foucault untersuchte, wie Macht durch Institutionen, Gespräche und soziale Praktiken ausgeübt wird und forderte uns auf, die verborgenen Mechanismen der Macht zu erkennen und zu hinterfragen, um mehr Freiheit und Gerechtigkeit zu erreichen. Stell dir vor, ein Paar streitet sich darüber, dass einer der Partner glaubt, dass er immer die Hausarbeit machen muss, während der andere Partner glaubt, dass die Arbeit gerecht aufgeteilt ist. Der Partner, der sich ungerecht behandelt fühlt, könnte darüber nachdenken, warum er diese Arbeit immer übernimmt. Vielleicht stellt sich heraus, dass traditionelle Geschlechterrollen oder gesellschaftliche Erwartungen eine Rolle spielen. Durch das Erkennen dieser verborgenen Einflüsse können beide Partner diese Strukturen hinterfragen und darüber sprechen, wie sie die Arbeit gerechter verteilen können.
Schlussgedanken
Der Perspektivwechsel ist ein praktisches Werkzeug, das uns hilft, Konflikte zu lösen, tiefere Einsichten zu gewinnen und empathischer zu handeln. Die Philosophie bietet uns eine reiche Grundlage, um die Bedeutung und den Wert verschiedener Perspektiven zu verstehen und in unserem Alltag anzuwenden.
Ich habe aus Gründen der Einfachheit die Partnerschaft als Beispiel verwendet, doch diese Werkzeuge lassen sich auch auf viele andere Lebensbereiche anwenden. Bei der Arbeit könnte die sokratische Methode verwendet werden, um kreative Lösungen zu finden, indem Fragen gestellt werden, die zum tieferen Nachdenken anregen. Husserls Methode könnte in der Erziehung helfen, Vorurteile abzulegen und die Bedürfnisse der Kinder objektiver zu betrachten. Foucaults Analyse der Machtstrukturen kann Bürger dazu anregen, die bestehenden politischen Systeme und Institutionen zu hinterfragen, um eine gerechtere und freiere Gesellschaft zu schaffen. Auch Bubers Ich-Du-Beziehung kann im politischen Diskurs helfen, indem Politiker und Bürger einander als gleichwertige Gesprächspartner sehen und wirklich zuhören, um bessere Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden.
Auch in der Praxis könnte ein Perspektivwechsel zum Beispiel der SPD guttun. Es ist kein Zufall, dass die größten Zugewinne der AfD durch Wählerwanderung von CDU und SPD kamen. Während die ehemaligen CDU-Wähler durch die Radikalisierung bestehender Ressentiments gewonnen wurden, kamen die ehemaligen SPD-Wähler, weil sie enttäuscht wurden. Diese Wähler sind, anders als die radikalisierten CDU-Wähler, nicht verloren und könnten zurückgewonnen werden, aber dafür würde es einen tiefgreifenden Perspektivwechsel und Reflexion benötigen.
Die wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen,
sondern darin, altes mit neuen Augen zu sehen!
Marcel Proust
Quellen:
[1] Copyright Lemi Lascault - https://x.com/remi_lascault