Sind die AfD-Wähler einfach nur dumm?
Wie Bonhoeffers Erkenntnisse den Aufstieg der AfD erklären, was wir dagegen tun können und warum die Union, wie wir sie kennen, sterben wird.
Nach der Europawahl bin ich immer noch ein wenig geschockt. Denn ich war der Überzeugung, dass die Klimakrise das letzte große Problem sein wird, dem wir uns, zumindest zu meiner Lebzeit, stellen müssen. Dass 78 Jahre nach der Kapitulation der Nazis eine rechtsextreme Partei zweitstärkste Kraft bei einer Wahl wird, hatte ich absolut nicht auf meiner Liste der Worst-Case-Szenarien.
Und warum hätte ich das auch auf dem erwarten sollen? Den Menschen in Deutschland geht es gut. In puncto Menschenrechte und Gleichberechtigung waren wir auf einem guten Weg. Die Arbeitslosenquote ist niedrig, die Wirtschaft läuft weiterhin auf Hochtouren, und es gibt keine Insolvenzwelle oder Blackouts. Auch beim Klimaschutz gab es Fortschritte, wenn auch kleine. Der Mindestlohn wurde erhöht, und das Bürgergeld wurde an die Inflation angepasst. Und überhaupt leben ja noch die meisten Geimpften. Trotzdem scheint ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr in der Lage zu sein, die Lage objektiv zu betrachten. Warum ist das so?
In einem Stream von Martin "Polyriker" Hopp, einem bekannten Politikinfluencer, stellte eine Zuschauerin die offensichtliche Frage: "Sind die AfD-Wähler einfach nur dumm?" Martin ging nicht wirklich auf die Frage ein und erklärte ihr stattdessen, dass diese Aussage ableistisch sei, weil sie implizit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder geringerer Intelligenz abwertet. Im Verlauf der Diskussion erinnerte ich mich jedoch an Bonhoeffers “Theorie der Dummheit”. In den folgenden Abschnitten werde ich erläutern, warum diese Theorie die bislang beste Antwort auf meine Frage nach dem "Warum" liefern kann.
Bonhoeffers Theorie der Dummheit
Dietrich Bonhoeffer, ein deutscher Theologe und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, entwickelte eine “Theorie der Dummheit”, die er in seinen Briefen aus der Haft beschrieb. Dabei ist die Definition der "Dummheit" nach Bonhoeffer weniger ein intellektueller Beeinträchtigung, sondern vielmehr ein moralisches und gesellschaftliches Problem. Bonhoeffer beobachtete, dass “Dummheit” oft im Kollektiv auftritt und dass Menschen in Gruppen dazu neigen, kritisches Denken und individuelle Verantwortung zu verlieren. Diese Art der “Dummheit” kann durch Propaganda, gruppendynamische Prozesse und Autoritätshörigkeit verstärkt werden. Eine „dumme“ Person ist in Bonhoeffers Sinne nicht unfähig zu denken, sondern unfähig, unabhängig und kritisch zu denken.
Dabei betonte Bonhoeffer, dass die "Dummheit" gefährlicher sein kann als Bosheit. Denn während Bosheit eine bewusste Entscheidung ist und daher rational bekämpft werden kann, ist "Dummheit" oft irrational und resistent gegen Argumente und Fakten. "Dummheit" kann also unbewusst und ohne böswillige Absicht großen Schaden anrichten. Ein wesentliches Merkmal der "Dummheit", wie Bonhoeffer sie beschreibt, ist die Unfähigkeit zur Selbstreflexion und kritischen Selbstprüfung. "Dumme" Menschen, so Bonhoeffer, sind sich ihrer "Dummheit" nicht bewusst und können sie daher auch nicht überwinden. Sie sehen sich selbst als rational und informiert, auch wenn sie es nicht sind. Bonhoeffer weist darauf hin, dass "Dummheit" nicht einfach ein individuelles Versagen ist, sondern dass gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse dazu beitragen, dass "Dummheit" entsteht und sich verbreitet. Es liegt daher auch in der Verantwortung der Gesellschaft, Strukturen zu schaffen, die kritisches Denken und Reflexion fördern. Dabei sind Bildung und Aufklärung wichtige Mittel, um der "Dummheit" entgegenzuwirken. Es geht dabei nicht nur um formale Bildung, sondern auch um die Förderung von ethischem Bewusstsein und moralischer Urteilsfähigkeit.
Die nützlichen “Dummen”
Die AfD versteht es meisterhaft, rechtspopulistische Rhetorik einzusetzen. Botschaften werden in einfacher Sprache mit einem hohen Anteil an Bildsprache immer wieder wiederholt. Verharmlosende Wortneuschöpfungen werden etabliert, kritische Begriffe gekapert und umgedeutet. Dabei übernehmen die "Dummen" diesen "Neusprech" auch ohne ein Wahrheitsministerium wie in Orwells Roman 1984. Ein zentraler Bestandteil dieser Strategie ist die Opferrolle. Indem die AfD sich als Opfer inszeniert, schafft sie eine Verbindung zur Wählerschaft und vermittelt, dass sie nicht zur "Elite" gehört. Spionage- und Korruptionsskandale ändern daran nichts – im Gegenteil, sie verstärken das Narrativ eines großen Komplotts "von denen da oben". Deshalb bezeichnet die AfD die anderen Parteien gerne als Altparteien, obwohl sie nach neun Jahren selbst längst Teil des Establishments ist.
Diese Umkehr und Umdeutung der Realität funktioniert bei der AfD in beide Richtungen. In den sozialen Medien werden politische Gegner, wie zum Beispiel die Grünen, immer wieder als Nazis verunglimpft, obwohl die AfD selbst rechtsextremes Gedankengut vertritt. Ebenso hat das mantraartige Wiederholen des Spruchs „Sei schlau, wähl blau“ gleich mehrere Bedeutungen. Es bestärkt die „Dummen“ in ihrem Gefühl, selbst eine kleine wissende Elite zu sein, im Kontrast zu den „Schlafschafen“. Es dient als Erkennungszeichen für Gleichgesinnte und wird für mehr Sichtbarkeit geliked und kommentiert. Durch die Häufigkeit vermittelt es den „Dummen“ das Gefühl, selbst die große schweigende Mehrheit zu sein.
Eine weitere Strategie der AfD besteht darin, Zweifel an seriösen Nachrichtenquellen zu säen, ihren Anhängern „alternative Fakten“ zu liefern und sie von klassischen Medien zu isolieren. Dadurch wird eine Echo-Kammer geschaffen, die die AfD braucht, um ihre Wähler „zu verdummen“. Ihre Kommunikationskanäle, sowohl offizielle als auch inoffizielle, funktionieren wie große Stammtische, an denen nüchterne Menschen wie betrunkene Rechte reden können, ohne soziale Ächtung zu erfahren. Während begründete Sorgen, etwa durch das Gefühl der Machtlosigkeit, in Hass und Wut umschlagen können, haben unbegründete Ängste andere Mechanismen und Auslöser, wie den Sündenbockmechanismus, bei dem Probleme auf Flüchtlinge projiziert werden, oder eben Verstärkungsmechanismen durch Echo-Kammern.
Durch den Mangel an Reflexion und kritischem Denken haben die AfD-Wählenden auch kein Problem damit, dass die Politik der AfD nicht nur gegen Flüchtlinge, Migranten, LGBTQ-Personen und Andersdenkende gerichtet ist, sondern vor allem auch gegen sie selbst. Die AfD-Wählenden sind sich dabei ihrer eigenen „Dummheit“ nicht bewusst und infolge dessen auch nicht in der Lage, diese zu überwinden.
Wege aus der Unmündigkeit
Dietrich Bonhoeffers “Theorie der Dummheit” und Immanuel Kants Begriff der "Unmündigkeit" ergänzen und verstärken sich in ihrer Bedeutung. Kant definiert Unmündigkeit als das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Dies führt zu einer Abhängigkeit von externen Autoritäten und verhindert eigenständiges, kritisches Denken. Kants Konzept unterstreicht dabei die Notwendigkeit der Aufklärung und der Förderung von Selbstdenken, um die Menschen aus ihrer Abhängigkeit und Passivität zu befreien.
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Bonhoeffers Theorie der Dummheit bietet, meiner Meinung nach, eine treffende Erklärung dafür, warum Menschen Parteien wie die AfD wählen, warum diese Menschen nicht mehr durch Fakten überzeugt werden können und warum es nichts bringt, die AfD "inhaltlich zu stellen". Nach Bonhoeffer ist die beste Möglichkeit, dieser “Dummheit” entgegenzuwirken, die Bildung. Denn auch Rassismus und Antisemitismus sind moralische Defekte, die hauptsächlich durch unsere Sozialisierung entstehen. Wir müssen uns jedoch eingestehen, dass es eine Generationenaufgabe sein wird und dabei müssen wir eben auch die Fehler der Vergangenheit aufarbeiten, denn der Rassismus und Antisemitismus war schon immer da, nur lassen wir aktuell zu, dass dieser sehr viel Raum einnimmt.
Im Kampf gegen Ressentiments muss die Intersektionalität eine zentrale Rolle spielen, da sie die Überschneidungen und Wechselwirkungen verschiedener Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus und Klassismus thematisiert. Es reicht nicht aus, nur Rassismus zu bekämpfen, weil Diskriminierungen oft nicht isoliert auftreten. Viele Menschen erfahren mehrere Formen der Diskriminierung gleichzeitig, was ihre negativen Auswirkungen verstärkt. Daher ist es essenziell, im Bildungssystem ein Bewusstsein für strukturelle Mehrfachdiskriminierungen zu schaffen und kritisches Denken, Reflexion und Empathie zu fördern. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Fokus auf Medienkompetenz. Jeder Mensch, unabhängig vom Bildungsgrad, sollte in der Lage sein, seriöse Quellen von unseriösen zu unterscheiden. So können wir sicherstellen, dass Fehlinformationen und Vorurteile nicht weiter verbreitet werden und dass eine informierte und aufgeklärte Gesellschaft entsteht.
Bildung allein wird das Problem der "Dummheit" jedoch nicht lösen können. Denn unsere Gesellschaft ist in einem tiefgreifenden Wandel: Viele Menschen verlieren ihre Identität, weil sie kein Zugehörigkeitsgefühl mehr haben. Die Vereinsamung nimmt zu, traditionelle Gemeinschaften wie Vereine zerfallen, und auch die Religionen sind für viele nicht mehr sinnstiftend genug. Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung dort, wo die AfD am meisten Zuspruch erhält. Für viele ist die AfD mehr als nur eine Partei. Sie bietet den Menschen ein “Wir”-Gefühl, der Kampf gegen die “Eliten” hat etwas Sinnstiftendes und auch die Tatsache, dass die AfD-Wählende die Partei nicht hinterfragen, hat etwas sehr spirituell Sektenhaftes an sich. Diese Entwicklungen zeigen, dass Menschen nach Zugehörigkeit und Sinn suchen, und diese Bedürfnisse werden nicht allein durch Bildung gedeckt. Es bedarf eines umfassenderen Ansatzes, der auch soziale und kulturelle Aspekte berücksichtigt, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der sich alle Menschen zugehörig und wertgeschätzt fühlen. Dabei wird es aber nicht ausreichen, einfach nur Räume zu schaffen, man muss auch dafür sorgen, dass dieses Gedankengut dort keinen Platz findet.
Pandemie der "Dummheit"
Die genannten Maßnahmen, um die „Dummheit“ zu überwinden, sind leider keine Lösungen, die man schnell umsetzen kann. Diskriminierung in jeglicher Form wird noch lange ein Problem in unserer Gesellschaft bleiben. Trotzdem müssen wir diese Pandemie der „Dummheit“ eindämmen, denn sie breitet sich rasant aus.
Inzwischen hat sie auch die Union erfasst. Es scheint wie ein Virus zu sein, das konservative Parteien befällt, sobald rechtsextreme Parteien auftauchen, und sie dazu veranlasst, immer radikaler zu werden. Die Tories und die Republikaner haben vorgemacht, was die Union jetzt wiederholt: Sie übernehmen rechtsradikales Gedankengut, machen es damit gesellschaftsfähig und treiben die Gesellschaft selbst an den rechten Rand.
Es sind vor allem die historischen, personellen und inhaltlichen Überschneidungen, die die Union anschlussfähig für die rechtsextreme AfD machen. Einige prominente AfD-Politiker waren zuvor Mitglieder der CDU/CSU. Diese Personen bringen oft Netzwerke und Freundschaften aus ihrer Zeit in der Union mit in die AfD. Auch inhaltlich unterscheidet sich die Union von der AfD nur in der Radikalität ihrer Forderungen. Betrachtet man andere konservative Parteien, die diese Entwicklung bereits durchgemacht haben, zeichnen sich nur zwei mögliche Ausgänge ab:
Die konservative Volkspartei stirbt, und ein Großteil der Wählenden wandert zu den Rechtsextremen ab.
- oder -
Die konservative Volkspartei wird selbst zur rechtsextremen Partei.
Leider wird dies zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, denn die Parteiführung der CDU/CSU scheint nicht willens, einen anderen Kurs als die Annäherung an die AfD einzuschlagen. Auch das ist eine Form der „Dummheit“, getrieben durch den unbedingten Willen zum Machterhalt. Parteien sind letztendlich nur Systeme, die mit vielen Privilegien einhergehen, und, oh boy, versuche mal einem alten weißen Mann auch nur eines dieser Privilegien abzuringen.
Das große Glück, das wir in Deutschland haben, ist, dass wir relativ viele größere Parteien haben, auch wenn diese weit von Umfragehochs entfernt sind. Für uns Wähler wäre daher der beste Weg, wenn die CDU/CSU einfach stirbt und die SPD, die sich ohnehin schon von vielen linken Werten und Ideen verabschiedet hat, diese Wählerschaft absorbiert.
Wenn also CDU/CSU und AfD nun Neuwahlen für den Bundestag fordern, wohlwissend, dass eine braune Koalition die einzige Option wäre, muss man sich schon die Frage stellen:
Für was braucht man eigentlich eine Brandmauer, wenn es auf beiden Seiten brennt?*
(*An dieser Stelle möchte ich gerne das Buch empfehlen, aus dem ich diesen Satz sinngemäß geklaut habe: Arne Semsrott - Machtübernahme.)
Disclaimer: Es ist immer eine Herausforderung, aus einer privilegierten Position über Diskriminierung zu schreiben, insbesondere wenn es um Themen wie Ableismus geht. Meine Absicht war es, die Problematik kritisch zu beleuchten und zur Diskussion anzuregen. Sollte ich dabei jemanden verletzt haben, bitte ich aufrichtig um Entschuldigung.