Ab morgen zählt die Zeit anders – nicht, weil die Welt nichts anderes zu bieten hätte. Wir könnten über Ahoo Daryayi sprechen, die im Iran gegen die Hijab-Pflicht protestierte und, sich bis auf die Unterwäsche entblößend, zum Symbol der Selbstbestimmung wurde. Oder über die Flutkatastrophe in Spanien, wo eine konservative-nationalistische Lokalregierung das Risiko für Panik größer einschätzte als das Risiko der Flutkatastrophe und viel zu spät warnte. Vielleicht auch über die humanitäre Katastrophe in Afghanistan, die Frauen und Mädchen besonders hart trifft, auch wenn Friedrich Merz davon überzeugt ist, dass es sich um ein "sicheres Herkunftsland" handelt. Oder über die Eskalation im Nahen Osten, wo israelische Streitkräfte nicht nur zivile Viertel, sondern auch UN-Stellungen mit Phosphormunition ins Visier nehmen. Und dann gäbe es noch die Ukraine, wo westliche Waffenlieferungen in solcher Dosis eintreffen, dass der Konflikt stets brodelt, aber nie „gelöst“ werden kann.
Doch all das verschwindet hinter einer einzigen Tatsache: Morgen, am Wahltag in den USA, entscheidet die selbsterklärte „Führungsmacht der freien Welt“ über ihre Zukunft – und damit über die Zukunft der westlichen Demokratien und des globalen Kapitalismus.
Biden und die verpasste Chance
Nach vier chaotischen und polarisierenden Jahren unter Donald Trump galt Joe Biden für viele als der große Befreier, als eine Rückkehr zur Normalität, eine Chance auf Heilung. Doch die bittere Bilanz seiner Amtszeit zeigt, dass keine Revolution stattfand, dass die tiefen Wunden des Landes bestenfalls notdürftig verbunden, aber niemals genäht wurden. Die soziale Schere, die schon unter Trump immer weiter auseinanderklaffte, tut dies nun mit noch rasanterem Tempo. Während die Milliardäre in der Pandemie und im Preisschock durch Russlands Krieg ihre Gewinne vervielfachten, rutschen immer mehr Amerikaner in die prekäre „paycheck-to-paycheck“-Realität ab. Ein Gesundheitsproblem, ein verlorener Job, eine Mieterhöhung – und sie stehen vor dem Ruin.
Und was tut die Biden-Regierung? Sie zeigt sich bestenfalls als hilflos und entmachtet, wenn es um das Schließen dieser Kluft geht. Vizepräsidentin Kamala Harris mag zwar die soziale Rhetorik beherrschen, doch die milliardenschwere Elite bleibt unberührt. Die Superreichen müssen keine ernsthaften Eingriffe befürchten, und auch Trumps Steuersenkungen für Reiche blieben unangetastet. Als Resultat werden die Reichen reicher, die Armen ärmer – ein vertrauter Takt in einem Land, das den Kapitalismus als oberste Maxime ausgerufen hat, aber seine eigenen Bürger zunehmend im Stich lässt.
Einfache Antworten für schwierige Zeiten
Doch es ist Donald Trump, der diese Wut und Verzweiflung aufgreift, der den Hass kanalisiert und ihn als Waffe einsetzt. Für den ehemaligen Präsidenten, der sich als Retter und wahrer Anwalt des „echten“ Amerikas inszeniert, sind die Migranten die ewigen Sündenböcke. Einfache Lösungen für komplexe Probleme – das ist Trumps Erfolgsrezept. Die Botschaft ist klar: Wenn alle Schuldigen erst einmal aus dem Land verbannt sind und alle Bedrohungen von innen – der "Deep State" (sprich: die Gewaltenteilung) – vollständig ausgeschaltet wurden, dann wird Amerikas goldene Zukunft wieder erstrahlen.
Die Ironie liegt darin, dass Trump für viele tatsächlich Hoffnung bedeutet. Nicht, weil er ein guter Mensch wäre oder tatsächlich Lösungen für ihre Probleme hätte, sondern weil er verspricht – und viele glauben – dass alles anders wird. Die Richtung ist dabei vielen Amerikanern egal. Ob es um den Schutz der LGBTQ+-Gemeinschaft oder um Frauenrechte geht, um Rassengerechtigkeit, Klimaschutz oder Meinungsfreiheit – all das verblasst, wenn das eigene wirtschaftliche Überleben bedroht ist und man droht, unter die Räder des Kapitalismus zu geraten. Wenn man nicht weiß, wie man die nächste Miete zahlen soll, sind Ideale ein Luxus, den man sich nicht leisten kann. Trump ist das letzte verzweifelte Aufbäumen in einem System, das sich selbst nicht mehr ertragen kann, das spürt, dass seine Zeit abläuft, und das bereit ist, sich für seinen eigenen Erhalt selbst zu zerstören.
Das Ende des Kapitalismus
Trump steht für den letzten Versuch, das kapitalistische System durch brutale Einfachheit und blinden Nationalismus zu retten. Seine Anhänger glauben an die Kraft der „alten Werte“, an den Traum von Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch in Wirklichkeit ist das System am Limit: ein kaum noch funktionierender Apparat, der seine Bürger auspresst, während er sich selbst mit leeren Versprechungen über Wasser hält.
Die Wahrheit ist, dass die Demokratie in den USA nicht mehr als das Werbeschild dieses gescheiterten Kapitalismus ist. Ein Kapitalismus, der seine Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit verraten hat und sich nur noch am eigenen Fortbestehen interessiert. Dabei ist die politische Klasse, ob Republikaner oder Demokraten, wenig mehr als der Hausverwalter dieses Systems. Ein wenig kosmetische Veränderung hier, ein paar soziale Worthülsen dort – doch die Kernprobleme bleiben. Die USA sind ein Land, das seine unteren Schichten für den Wohlstand weniger Milliardäre opfert, und das unter dem Mantel der Demokratie verkauft.
Der Vorhang fällt
Ab morgen wird die Uhr anders ticken. Es ist das Jahr 33 nach dem Ende der Sowjetunion, und Amerika, die letzte Weltmacht des Kalten Krieges, hat es nicht geschafft, das Versprechen von Wohlstand und Freiheit einzulösen. Sollte Trump gewinnen, sei es durch Wahl oder – falls das nicht gelingt – durch einen weiteren, diesmal erfolgreichen Coup d’Etat, dann verabschieden sich die USA endgültig von dem Ideal einer freien und gerechten Gesellschaft. Was dann folgt, ist der Aufbruch in ein dunkles Kapitel.
Ab morgen wird der End-Stage-Kapitalismus in eine neue Epoche eintreten und damit nachhaltig die USA und die Welt verändern. Ein Land, das sich auf die „Law and Order“-Politik eines Autokraten stützt, braucht keine Wahlen mehr. Eine Wirtschaft, die nur noch den Reichen dient, braucht keinen Mittelstand mehr. Und eine Gesellschaft, die sich an den Abgrund hat drängen lassen, braucht keine Demokratie mehr.
Morgen ist Day One.