Zwischen Heldentum und Terror
Von utilitaristischen Argumenten bis zu Kants Ethik: Die moralische Analyse eines Anschlags
Nur wenige Zentimeter auf eine Distanz von 130 Metern haben über Leben und Tod entschieden. Als der erste Schuss fiel fasste sich Trump ans Ohr und ging in Deckung. Von den zwei weiteren Schüssen traf wohl einer eine unbeteiligte Person und verletzte diese tödlich. Der Secret Service stürzte sich schützend auf Trump, doch dieser war geistesgegenwärtig und wusste, wie so oft, die Situation perfekt in Szene zu setzen. Er schaffte sich Platz, ballte die Faust gen Himmel und rief der besorgten Menge mit Blut an der Wange und am Ohr zu: „Fight! Fight! Fight!“. Aus dieser Position, umringt vom Secret Service, mit fest entschlossenem Blick und wehender Nationalflagge, wirkte er fast wie ein Held.
Die Kameras blitzten und es entstand das Foto, das nicht nur das „most iconic“ Foto des Jahrzehnts werden könnte, sondern auch die Wahl im November entscheiden wird. Denn es passt genau in Trumps Weltbild und die Botschaft an seine Fans:
„They are coming for me, because I am fighting for you“.
Der gescheiterte Attentatsversuch macht ihn zum Märtyrer und wird bei vielen zumindest den Zweifel schüren, ob Trumps Verurteilung nicht doch politisch motiviert war. Das schafft Probleme für Biden, der nach seinen jüngsten Aussetzern in den Umfragen weiter abfallen könnte, denn seine Kampagne baut neben den Folgen von Project 2025 auf Trumps Verurteilung auf. Es waren Zentimeter die einen großen Unterschied machten.
Wann ist ein Attentat gerechtfertigt?
Das gescheiterte Attentat auf Trump wirft insofern auch bei mir ein altes moralisches Dilemma auf: Hätte ein erfolgreiches Attentat zukünftige Menschenleben schützen können? Leider wissen wir solche Taten erst rückblickend zu beurteilen. Ein gelungenes Attentat auf Hitler hätte vermutlich Millionen von Menschenleben geschützt. Aber Trump ist nicht Hitler. Auch wenn er eine Abkehr von der Demokratie zur Autokratie wünscht, zeigt er keinerlei Bestrebungen, die systematische Vernichtung oder Verfolgung von Bevölkerungsgruppen voranzutreiben, wie es Hitler tat.
Das moralische Dilemma berührt einen tiefen ethischen Konflikt, der oft in der Philosophie diskutiert wird: Ist es moralisch vertretbar, eine Tat zu begehen, die an sich schlecht ist, um ein vermeintlich größeres Übel zu verhindern?
Philosophische Perspektiven
Der Utilitarismus, ein philosophischer Ansatz, der maßgeblich durch Jeremy Bentham und John Stuart Mill geprägt wurde, sagt hier ein ganz klares Ja. Der Utilitarismus beurteilt die moralische Qualität einer Handlung nach ihrem Beitrag zum allgemeinen Glück. In diesem Sinne könnte ein utilitaristisches Argument dafür sprechen, dass ein Attentat gerechtfertigt ist, wenn es das größere Leid verhindert.
Gegensätzlich dazu steht die deontologische Ethik von Immanuel Kant, die besagt, dass moralische Handlungen an sich richtig oder falsch sind, unabhängig von ihren Konsequenzen. Kants kategorischer Imperativ fordert, dass wir andere Menschen niemals bloß als Mittel zum Zweck behandeln dürfen. Nach dieser Auffassung wäre ein Attentat moralisch unzulässig, weil es einen Verstoß gegen die intrinsische Würde und Rechte des Menschen darstellt.
Ein Mittelweg ist das Prinzip der Doppelwirkung, das in der katholischen Moraltheologie entwickelt wurde. Dieses besagt, dass eine Handlung, die sowohl eine gute als auch eine schlechte Wirkung hat, moralisch vertretbar sein kann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind:
Die Handlung an sich muss gut oder zumindest moralisch neutral sein.
Die gute Wirkung darf nicht durch die schlechte Wirkung herbeigeführt werden.
Die Absicht des Handelnden muss auf die gute Wirkung gerichtet sein, während die schlechte Wirkung nur unbeabsichtigt toleriert wird.
Es muss ein proportionaler Grund vorliegen, der die schlechte Wirkung rechtfertigt.
Im Falle des Attentats könnte das Prinzip der Doppelwirkung die Handlung moralisch wie folgt analysieren:
Handlung: Das Attentat selbst wird als schlecht betrachtet (Mordversuch), also nicht neutral oder gut.
Wirkungen: Die schlechte Wirkung (Tod von Trump) führt nicht direkt zur guten Wirkung (Verhindern von Project 2025).
Absicht: Die Absicht war vielleicht, zukünftiges Leid zu verhindern, nicht den Tod der Person an sich.
Proportionalität: Ob der potenzielle Nutzen die schlechte Wirkung aufwiegt, werden wir wohl erst rückblickend erfahren.
Das Prinzip der Doppelwirkung kann uns auch hier keine eindeutige Antwort geben, denn wir können nicht wissen, wie Trump regieren wird (Proportionalität), und wir wissen wenig über den Charakter des Attentäters und seine Motivation für seine Tat (Absicht).
Die Tugendethik, insbesondere die von Aristoteles entwickelte, beschäftigt sich ebenfalls mit dem Charakter und den Tugenden des Attentäters. Sie tut dies, im Kontrast zu den anderen Ansätzen, jedoch ausschließlich ohne moralische Regeln oder Konsequenzen einer Handlung zu betrachten. Tugenden sind Qualitäten wie Mut, Gerechtigkeit, Weisheit und Mäßigung, die zu einem guten und erfüllten Leben führen.
In diesem Kontext könnte man fragen, ob ein Attentat auf Trump eine tugendhafte Handlung wäre. Ein tugendhafter Mensch würde sich wahrscheinlich nicht von Angst oder Hass leiten lassen, sondern von einem tieferen Sinn für Gerechtigkeit und dem Wohl der Gemeinschaft. Die Tugendethik würde uns dazu anregen, die Charaktereigenschaften zu betrachten, die eine solche Handlung motivieren. Handelte der Attentäter aus Mut und Gerechtigkeitssinn oder aus Rachsucht und Angst?
Jeder ethische Ansatz bringt somit seine eigenen Perspektiven und Dilemmata mit sich, ohne eine abschließende Antwort zu liefern. Auch wenn ein erfolgreiches Attentat vielleicht einige unserer Befürchtungen beseitigt hätte, müssen wir uns in einer demokratischen Gesellschaft stets bemühen, Konflikte durch Dialog und Rechtsstaatlichkeit zu lösen, anstatt zu extremen Maßnahmen zu greifen. Die Geschichte hat gezeigt, dass Gewalt selten zu nachhaltigen Lösungen führt. Stattdessen sollten wir uns auf die Prinzipien konzentrieren, die die Demokratie stark machen: Rechtsstaatlichkeit, freie Meinungsäußerung und der respektvolle Umgang mit politischen Gegnern, auch wenn diese Gegner diese Prinzipien nicht vertreten und abschaffen wollen.
Nicht zuletzt müssen wir auch bedenken, dass ein unschuldiger Mensch bei diesen Attentsversuch ums Leben gekommen ist.